Männliche Gliederpuppe
Deutsch, 17. Jahrhundert
Holz, Reste von Farbfassung,
historischer Eisensockel
H 70 cm

 

Objekt leider nicht mehr verfügbar.
Kontaktieren Sie uns für ähnliche Objekte!

Die männliche Gliederpuppe überzeugt vor allem durch ihre eindrucksvolle Modellierung: Der Künstler hat die anatomischen Besonderheiten des männlichen Körpers besonders betont. Dank der Kugelgelenke können der Kopf, der Torso, die Hüften, die Arme und die Hände separat bewegt werden um unterschiedliche Posen zu simulieren. Im Nationalmuseet in Kopenhagen befindet sich ein in Größe, Stil und Proportion nahezu identische Gliederpuppe. Die Kopenhagener Puppe ist bemerkenswert, weil sie der königlich Dänischen Kunstkammer laut den Inventaren der Sammlung bereits vor 1674 hinzugefügt wurde. Damit lässt sich feststellen, dass auch die hier vorliegende Puppe im 17. Jahrhundert gefertigt wurde. Vergleichbare Holzfiguren von gleicher Größe können außerdem im Museo Nazionale del Palazzo di Venezia in Rom, in der Sammlung des Bayerischen Nationalmuseum, sowie im Konstmuseum in Göteborg gefunden werden.

Gliederpuppen stellten seit der Renaissance einen unverzichtbaren Bestandteil des Künstlerateliers dar. Von Pollaiuolo, Fra Bartolommeo und Dürer ist überliefert, dass sie zur Konzeption ihrer Kunstwerke und vor allem für Proportions- und Kompositionsstudien hölzerne Puppen herstellten. Solche Figuren wurden insbesondere für Draperiestudien benutzt, wenn der Künstler den Faltenwurf eines Gewandes bei einer bestimmten Körperhaltung darstellen wollte, ohne ein lebendiges Modell bezahlen zu müssen.
Gliederpuppen waren aber auch zweifellos ein Statussymbol. Der niederländische Maler Werner van den Valckert (ca. 1585 - nach 1635) hat 1624 einen unbekannten Bildhauer porträtiert, sicherlich ein Mitglied der Lukasgilde, der auf eine Gliederpuppe zeigt, welche er gerade hergestellt hat. Diese Skulptur stellt offenkundig ein prestigeträchtiges Kunstwerk dar welches die Kunstfertigkeit des Bildhauers bezeugt. Besonders interessant ist, dass die Puppe auf in Van den Valckerts Gemälde in etwa die gleichen Proportionen und Funktionen hat wie das hier vorliegende Exemplar. Damit ist bestätigt, dass solche Puppen im 17. Jahrhundert angefertigt wurden und dass man sie nicht nur als Hilfsmittel für Künstler, sondern auch als eigenständige Kunstwerke betrachtete. Gemeinsam mit den Gliederpuppen im National Museum Kopenhagen und im Museo Nazionale del Palazzo di Venezia in Rom ist die hier vorliegende Puppe eine der wenigen erhaltenen Künstler-Puppen aus dem 17. Jahrhundert.

In der frühen Neuzeit wurden Gliederpuppen als wertvolle Sammlerstücke betrachtet. Das lässt sich etwa an einer kleinen Gruppe vorzüglich geschnitzter Puppen sehen, die wahrscheinlich zwischen 1520 und 1530 in der Werkstatt des Salzburger Meisters IP hergestellt wurden und sich heute im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck (Inv. Nr.. P 415 & P 516), in der Berliner Skulpturensammlung (Inv. Nr.. 2167; Berlin 1977), im Grassi Museum für Angewandte Kunst in Leipzig (Inv. Nr. 1912.198), im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg (Inv. Nr. I.N.1960.58,) und im Prado in Madrid befinden (Inv. Nr. E-484). Zwischen 22 und 24 cm groß, sind diese Renaissance-Figuren kleiner als die hier besprochene Puppe. Sie zeichnen sich durch außergewöhnlich fein geschnitzte Gesichter, Haare und Genitalien sowie vollkommen in den Körper integrierte Kugelgelenke aus. Die hier sichtbare, herausragende Kunstfertigkeit ist ein weiteres Indiz, dass es sich bei diesen Figuren um Kunstkammerobjekte gehandelt hat.  

Im Kontext der Kunst- und Wunderkammern galten Gliederpuppen als hoch angesehene Artificialia, immerhin bezeugten sie eindrucksvoll die Fähigkeit des Künstlers sich mit der göttlichen Schöpfung zu messen. Wie die Hersteller von Instrumenten die das Leben mit Automaten und anderen mechanischen Kreationen imitierten, schuf der Bildhauer künstliche Körper in der Form von Puppen die sich nicht nur mit ihrer physischen Präsenz und ihrem naturalistischen Äußeren, sondern auch mit ihrer flexiblen Beweglichkeit in gewissem Maße göttlicher Schöpfung annäherten.

Aus diesen Gründen gelangten Gliederpuppen in die bedeutendsten Kunst- und Wunderkammern des 16. Und 17. Jahrhunderts. Dort waren laut einem Inventar von 1598 ‘ain Glidmann und Glidweib nakhendt’ [ein Gliedermann und eine Gliederfrau nackt] als Schätze in einer Schachtel ausgestellt (Diemer, D./Diemer, P./Seelig, L. u.a.: Die Münchner Kunstkammer, 3 Bde., München 2008, Vol. 1, Katalogteil 1, pp. 133-134, Nr. 354). Dieses Paar von Gliederpuppen hat leider nicht überlebt, genauso wenig wie der „Glidman“ und das „Glidweibl“ die im Inventar der Kunstkammer Rudolph II. von 1607/11 erwähnt wurden. Obwohl die hier vorliegende Puppe zweifellos für einem Künstler hergestellt worden ist, lässt sich nicht ausschließen, dass sie später in den Besitz eines bedeutenden Sammlers kam und in einer Kunst- und Wunderkammer ausgestellt wurde, wie die Gliederpuppe aus Kopenhagen. Fest steht aber, dass dieses außergewöhnliche Bildwerk sich durch seine anatomisch besonders detailreiche Gestaltung deutlich von gewöhnlichen Puppen unterscheidet. Gerade aufgrund dieser hervorragenden künstlerischen Leistung hätte diese Puppe sowohl bei den Erzeugern als auch bei den Sammlern von Kunst höchste Wertschätzung gefunden.

Publiziert in: Raum für Objekte - Ariane Laue Kunsthandel, Kat .V - Nr. 14, München 2017