Gliederpuppe
Frankreich, um 1750
Holz, Kupfer, Kork,
Rosshaar, Leder
Originaler Eisensockel
H 71 cm

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Die vorliegende Gliederpuppe, die in einem Künstler-Atelier als Hilfsmittel für künstlerische Studien genutzt wurde, gehört zu den wenigen, erhaltenen Mannequins dieser Art aus dem 18. Jahrhundert. Allein im Museum of London hat sich eine nahezu identische Gliederpuppe erhalten, die aus dem Nachlaß des französischen Bildhauers Louis François Roubiliac (1695-1762) stammt und demnach vor 1762 entstanden ist. Roubiliac wirkte seit 1731 in Großbritannien und war Gründungsmitglied der St. Martin’s Lane Academy, der Vorgängerin der Royal Academy. Dort unterrichtete er die Kunst der Bildhauerei u.a. anhand des besagten Mannequins, dessen Körper über einem bronzenen und hölzernen Gerüst mit Kork geformt und mit Seide bezogen ist. Die Puppe konnte nach Bedarf mit unterschiedlichen Gewändern und Perücken bekleidet werden, um dann den angehenden Künstlern als Vorlage beim Entwerfen von Zeichnungen und Plastiken zu dienen.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war Frankreich führend in der Herstellung von besonders ausgefeilten Gliederpuppen, von sog. mannequins perfectionnés. Bis ins 19. Jahrhundert wurden derartige Mannequins zum Ankleiden, meistens lebengroß, als Künstlerbedarf gefertigt. Als Spezialist hierfür erfreute sich zwischen etwa 1790 und 1820 der Bildhauer Paul Huot großer Beliebtheit, der seine Künstlerpuppen bis nach Sankt Petersburg verkaufte. Heute noch hat sich ein weibliches Mannequin in der Sammlung Angewandte Kunst der Museumslandschaft Hessen Kassel erhalten, das Huot um 1816 für die beträchtliche Summe von 1.000 Francs lieferte.

Von Gliederpuppen des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich das vorliegende Mannequin und sein Londoner Gegenstück durch ihre geringe Größe und insbesondere durch ihr ausgefeiltes, artikuliertes Gerüst. Die Londoner Puppe ist immer noch mit dem modellierten Körper aus Kork mit Seidenbezug erhalten, aber eine tomographische Untersuchung des Objekts brachte exakt dieselbe Innenstruktur ans Licht wie bei der besprochenen Gliederpuppe. Die Gliedmaßen sind bis in die Fingerspitze artikuliert. Arme, Schulter, Rumpf und Hüfte werden durch kugelförmige Gliederelemente beweglich gemacht, die anstelle der Schulterblätter verdoppelt sind und an der Wirbelsäule seitlich mit Schrauben verstärkt sind. Die geraden Elemente des „Skeletts“ sind wiederum mit Dornen versehen, um die Masse von Roßhaaren und Kork zu befestigen, mit der der Körper geformt wurde. Daß diese innere Struktur für Gliederpuppen des 18. Jahrhunderts charakteristisch ist, belegt der Tafelband der Encyclopédie, den Denis Diderot (1713-1784) und Jean d’Alembert (1717-1783) 1763 veröffentlichten. In dem Artikel zum Lemma Dessein (Zeichnung) wurde der Einsatz von Mannequins beim Zeichenunterricht besprochen und dementsprechend eine Gliederpuppe als Kupferstich abgebildet. Diese wird von demselben Gerüst wie das besprochene und das Londoner Mannequin getragen (Diderot/d’Alembert 1763, Taf. VI-VII). Daran zeigt sich, daß die französischen Mannequins aus der Mitte des 18 Jahrhundert aus einem übermodellierten Gerüst bestanden und nur der Kopf, die Unterbeine und oberen Teile der Füße in Holz geschnitten wurden – exakt wie bei der vorliegenden Gliederpuppe.

Über die in der Encyclopédie abgebildete Gliederpuppe berichtet der Schriftsteller Barillet in seinem Traktat Sur le Mannequin von 1809, dieses Modell sei mehr als sechzig Jahre alt. Damit wird die frühe Datierung des besprochenen Mannequins bestätigt, die auch anhand der Puppe aus dem Nachlaß des Bildhauer Roubiliac in London um 1750 datiert werden kann. Die vorliegende Gliederpuppe gehört somit zu den wenigen, frühen mannequins perfectionnés aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, die sich überhaupt erhalten haben und von der Perfektion einer Kunst zeugen, die erst im 19. Jahrhundert ihre Blüte erleben sollte.

Publiziert in: Raum für Objekte - Ariane Laue Kunsthandel, Kat. III - Nr. 27, München 2015